Zum Blick des Bundestagsabgeordneten Erwin Rüddel (CDU) auf das Urteil des Bundesverfassungsgerichts zur Wahlrechtsreform möchte ich erklären: Dass diejenigen, die mit dem niedrigsten Abstand zum Parteiergebnis den Wahlkreis gewonnen haben, jetzt bangen müssten, ob sie in den Deutschen Bundestag einziehen, und es im Extremfall sein könne, dass eine Region gar keinen Abgeordneten in den Deutschen Bundestag entsendet, ist weniger schlimm als der Skandal, dass bei der letzten Bundestagswahl das niedrigste Ergebnis, das für ein Direktmandat reichte, 18,6 Prozent waren.

Es wurde jemand Abgeordneter, den über 80 Prozent der Wählenden nicht gewählt haben, und wenn man die Nichtwählenden mitbedenkt, hat dieser Abgeordnete vielleicht sogar nur eine Zustimmung im einstelligen Prozentbereich gehabt. Das bisherige Wahlrecht passt also nicht nicht mehr zum Einzug vieler Parteien in den Bundestag, wie es die neue Realität ist. Anders als früher, insbesondere noch in der alten Bundesrepublik, erreichte bei der letzten Bundestagswahl nur noch ein einziger Bewerber in seinem Wahlkreis mehr als 50 Prozent der Erststimmen. Völlig zu Recht und an der Wirklichkeit ausgerichtet sieht das Bundesverfassungsgericht das Zweitstimmendeckungsverfahren als für mit dem Grundgesetz vereinbar an. Völlig zustimmen muss ich jedoch dem Bundestagsabgeordneten Erwin Rüddel, wenn er herausstellt, dass die Beibehaltung der Fünf-Prozent-Sperrklausel die Beibehaltung der Grundmandatsklausel erfordert, nach der eine Partei auch dann in den Deutschen Bundestag einzieht, wenn sie fünf Prozent der Wählerstimmen nicht erreicht, aber in mindestens drei Wahlkreisen das Direktmandat erzielt.

Damit sei der Versuch der Ampel, mit Hilfe des Wahlrechts politische Konkurrenten zu schwächen, vor dem höchsten Gericht erwartungsgemäß gescheitert, meint Rüddel. Ich sehe das in der Tat als den einzigen Sündenfall der Ampel bei der Wahlrechtsreform an, der zudem in unappetitlicher Weise an Tricksereien in Halbdemokratien erinnert. Um einen durch Überhang- und Ausgleichsmandate aufgeblähten Bundestag zu verhindern, bedurfte es der Streichung der Grundmandatsklausel überhaupt nicht, so dass es eindeutig ist, dass diese Streichung nur zu Lasten der Konkurrenz von CSU und Linkspartei geplant sein konnte.

Um den Bundestag jedoch ernsthaft zu verkleinern, muss tatsächlich der Grundcharakter des Verhältniswahlrechts voll und ganz zur Geltung kommen, so dass die Parteistimme das Maß aller Dinge sein muss. Bei Rüddels Ankündigung, die Regelung, dass ein erfolgreicher Wahlkreiskandidat nur ins Parlament kommt, wenn er die Partei im Rücken hat, nach Übernahme von Regierungsverantwortung rückgängig zu machen, kann tatsächlich nur Murks herauskommen, zumal dafür ein murksfreundlicher Koalitionspartner notwendig wäre. Davon abgesehen ist ein Wahlkreiskandidat, der mit 18,6 Prozent das Direktmandat „gewinnt“, nicht wirklich erfolgreich. Nach diesem Ansatz wäre im Übrigen auch ein Autofahrer, der bei einem Unfall nur 81,4 Prozent seines Autos schrottet, als erfolgreich zu bezeichnen.