Das Neuwieder Bündnis für Demokratie und Toleranz und der AK Palästina der Lokalen Agenda machten vorab darauf aufmerksam, sie seien nicht die Organisatoren der für den 24. Oktober angemeldeten Demonstration für Palästina, und diesen beiden Gruppen sei es bei den bisherigen Mahnwachen zudem wichtig gewesen und bleibe es auch, die Opfer auf beiden Seiten in den Blick zu nehmen. Diese Klarstellung ist nachvollziehbar, und verglichen mit dem Anspruch des Neuwieder Bündnisses und des AK Palästina war die Pro-Palästina-Demonstration am vergangenen Freitag auf jeden Fall einseitig. Nun ist Ambiguitätstoleranz die Fähigkeit, Mehrdeutiges und Widersprüchliches auszuhalten, was beim Blick auf diese Demonstration durchaus hilfreich ist. So würde ich nicht von einer antisemitischen Veranstaltung sprechen. Ein Redner beispielsweise wertschätzte das Judentum wie auch die beiden anderen abrahamitischen Religionen.

Bei der Polaritätenbildung Judentum versus Zionismus, Islam versus Islamismus und Deutsche versus Rassismus, Nazismus mag man in dubio pro reo einen guten Willen zugute halten, denn es war ja eine propalästinensische Demonstration und keine wissenschaftlich fundierte Auseinandersetzung, bei der die Komplexität des Zionismus mit ihren historischen Bezügen wie etwa den Pogromen im Zarenreich, der Dreyfus-Affäre und vor allen Dingen der Schoah diskutiert würde. Die Dämonisierung des Zionismus als Terrorismus durch die Demonstrierenden war beides: aus deren Perspektive verständlich - und objektiv falsch. An einer anderen Stelle kamen nachvollziehbare Meinungsäußerung und ein No-Go in einem Beitrag zusammen. Die Bezeichnung palästinensischer Gefangener in israelischen Gefängnissen als „Geiseln“ ist insbesondere angesichts der umstrittenen Administrativhaft, des rechtsstaatsunwürdigen missbräuchlichen Rechts zur Inhaftierung von Palästinensern, eine durchaus legitime Sicht der Dinge, aber die Bezeichnung der Hamas-Geiseln vom 7. Oktober 2023 als „Kriegsgefangene“, weil Soldaten darunter, ist einfach nur skandalös. Es gibt eine Zusammenstellung von Videos der Hamas, die die Grausamkeit und den Zynismus der Täter vom 7. Oktober dokumentiert, die sich die Teilnehmenden an der Pro-Palästina-Demonstration doch mal anschauen sollten, ohne dass ich allerdings damit deren Empörung, jedenfalls soweit sie Netanjahus Ausweitung des Gaza-Kriegs betrifft, in Frage stellen möchte. Vivian Silver, eine der Mitbegründerinnen der Bewegung "Woman Wage Peace" (Frauen stiften Frieden), wäre als Idealistin bestimmt keine „Kriegsgefangene“ der Hamas gewesen, hätte sie überlebt. Sie hatte Patienten aus dem Gazastreifen in Kliniken nach Israel gebracht. Die Hamas zündete ihr Haus im Kibbuz Be'eri an und sie verbrannte in ihrem Haus. Auch die Kontextualisierung des 7. Oktobers im Zusammenhang mit der Nakba (Vertreibung und Flucht arabischer Palästinenser während des Palästinakriegs 1947–1949)  und verglichen mit der Intifada (zwei palästinensische Aufstände gegen Israel) ist angesichts des Ausmaßes der Verbrechen vor zwei Jahren mehr als deplatziert. Hier wäre außerdem Verständnis für die andere Seite angezeigt: „Masada soll nie wieder fallen“ – Schoah – 7. Oktober als Reaktualisierung des Holocaust-Traumas. Kurz auf den Punkt gebracht war die propalästinensische Demonstration nicht antisemitisch, aber im Hinblick auf die jüdisch-israelische Perspektive völlig unempathisch.