Gerne erinnere ich mich daran, dass Helmut Dieser, Bischof von Aachen, beim Neujahrsempfang der Neuwieder CDU im Jahre 2020 einen interessanten Vortrag darüber hielt, dass der Mensch nach kultureller Gestaltung seines Lebensumfeldes und seiner Lebensweise strebt, mit der er sich und die Umwelt deutet. In allem Ringen um Fortschritt gehe stets die Notwendigkeit mit, die Welt zu deuten, was den Menschen vom Tier unterscheide. Das Gefüge der Deutungen, der unterschiedlichen Vorstellungen wird als die jeweilige Ideologie bezeichnet, die konservativ, sozialistisch, liberal oder wie in Israel nationalreligiös sein kann. Im Vergleich dazu ist die Selbstbeschreibung der Freien Wähler als pragmatisch und ideologiefrei recht einfältig.

Aus der Forschung wissen wir, dass Schimpansen über Lernen durch Einsicht ganz pragmatisch dazu in der Lage sind, durch Benutzen eines Stückes Holz eine schlecht erreichbare Frucht vom Baum zu holen. Dass der Entwicklungsstand der Freien Wähler exorbitant höher ist, erkennt man hingegen schon allein durch sie kritisch Betrachtende. So tut sich der die Urheberrechte habende Reclam-Verlag schwer damit, dass die Freien Wähler in Dresden eine Lesung aus dem Werk des jüdischen Autors Victor Klemperer geplant haben. Der Verlag behält sich rechtliche Schritte vor, sollte Klemperers Ansehen oder das Gedenken an NS-Opfer verunglimpft werden.

Da denkt man unweigerlich an die Aiwanger-Affäre, auf die die rheinland-pfälzischen Freien Wähler zunächst erschrocken reagierten. Umso erstaunlicher ist es dann, dass Sahra Wagenknechts „Jugendsünden“ anders, als unverzeihlich bewertet werden. Sie hat sich aber deutlich von dem Stuss distanziert, den sie als Twen vertrat. Das ist deswegen glaubhaft, weil ihre früheren Verirrungen überhaupt nicht zu ihrem allerdings genauso fragwürdigem Ansinnen passen, jetzt auf eine AfD-light-Russlandpartei zu setzen.

In der Gegenwart liegt demzufolge das wirkliche Problem für die Freien Wähler. Aktuell müssen sie im Landtag Brandenburg den Verlust des Fraktionsstatus hinnehmen, nachdem ein Abgeordneter zur AfD gewechselt ist. Die letzte Landtagswahl in Rheinland-Pfalz hat indes gezeigt, dass die Freien Wähler trotz AfD Erfolg haben können. Aber wenn beim nächsten Mal auch noch die im gleichen Segment wildernde Wagenknecht-Variante gegen die Freien Wähler antritt, dürfte ihre Präsenz im Landtag ein an die Piratenpartei erinnerndes Intermezzo gewesen sein. Angesichts der für sie real drohenden Gefahr durch diese Konkurrenz wirkt die Erklärung der Freien Wähler Rheinland-Pfalz zur Gründung des Bündnisses Sahra Wagenknecht geradezu rührend hilflos.